Gemeinwohl-Innovation: Darum engagierte ich mich für die Gemeinwohl-Ökonomie
Eines meiner Ziele für 2020 war die Zertifizierung zum GWÖ-Berater. Ich habe mich damals mit folgendem Motivationsschreiben für den Lernweg beworben:
Bereits in der Grundschule — damals noch keine zehn Jahre jung — habe ich in meiner eigenen Schülerzeitung über soziale Probleme und Umweltkatastrophen berichtet. Ich sammelte Spenden unter anderem für Mosambik und für die Menschen, die mit den Spätfolgen von Tschernobyl zu kämpfen haben. Als Jugendlicher war ich früh im Roten Kreuz aktiv — ob als Schulsanitäter, Katastrophenschützer, Blutspender oder Rettungssanitäter — das Abenteuer Menschlichkeit stand bei mir immer ganz weit oben! Während meines Schuljahres in den USA habe ich 2005 Spenden für die Tsunami-Opfer gesammelt. Für die Gesellschaft aktiv zu werden, war auf dem Schulhof nicht gerade populär, aber für mich aufgrund der unmittelbaren Wirkung und Menschennähe schon damals richtig spannend.
Durch meinen im kaufmännischen Bereich tätigen Vater schlug ich zunehmend eine unternehmerische Laufbahn ein. Aber ob Schülerunternehmen oder Schulkiosk — überall floss eine gewisse Haltung und Integrität mit hinein. So waren wir unter anderem 2008 Veranstalter der ersten klimaneutralen Abiturientenfete Deutschlands! Auch die Natur war für mich schon immer wichtige Lebensgrundlage für das gemeinsame Wohlergehen aller Menschen.
Es schlugen zwei Herzen in meiner Brust.
Dann musste ich mich fast schon qualvoll entscheiden, ob ich Soziale Arbeit oder Betriebswirtschaftslehre mit dem Schwerpunkt Dienstleistungsmanagement studieren möchte. Ich wählte Letzteres, weil es ebenfalls um die Interaktion mit Menschen ging, die Inhalte breiter aufgestellt erschienen und ich mit dem erworbenen Hintergrundwissen immer noch in die soziale Arbeit einsteigen könnte.
Nach vier Jahren Dualen Studiums bei der IBM Deutschland ging ich 2011 in die Selbstständigkeit, da mir die IT-Beratung oft wenig sinnhaft, phantasielos und träge erschien. Mein erstes Startup hieß damals Autonetzer: Hier wollten wir das „Stehzeug“ wieder zum Fahrzeug machen, indem wir das private PKW-teilen (p2p-Carsharing) ermöglichen. Unsere Vision war es, dass Kinder aufgrund der Reduktion der Fahrzeuge wieder auf unseren Straßen spielen könnten. Ich lernte viel darüber, wie man ein Startup (nicht) aufbaut und habe dann seit 2014 in Selbständigkeit die Erfahrungen und das Gelernte rund um Design Thinking, Business Modelling und Lean Startup weitergegeben. Unter anderem mit dem Handbuch für Startups, welches ich herausgebracht habe. Damit entstanden auch die Beraterkollektive „Make it“ und „Strive“ mit ihren Dienstleistungen für nutzerzentrierte Innovation. Hier stehen für uns noch heute die eigenen Kollegen, die Mitarbeiter unserer Kunden sowie deren potenzielle Kunden im Mittelpunkt. Meine Annahme war, dass Projekte, die kompromisslos vom Endnutzer aus gedacht werden, die Welt verbessern.
Das erste Mal kam ich mit der Gemeinwohl-Ökonomie 2013 in Berührung, und zwar im Rahmen meines ehrenamtlichen Engagements bei OuiShare, einem weltweiten Kollektiv für eine von der Gesellschaft getragenen Sharing Economy. Hier habe ich auch einen Blog gestartet: kokonsum.org und den deutschen Begriff „kollaborativer Konsum“ geprägt. Spätestens jetzt wurde mir auch bewusst, wie viel Green- & Socialwashing es gibt und dass viel Leid von Mensch und Natur von einer einseitig-dominierenden Wirtschaftsform herrührt. Das muss sich ändern! So begann ich mit verschiedenen Veranstaltungen Sozialunternehmertum zu fördern, viele alternative Projekte zu unterstützen (u.a. Krautreporter, Fairmondo, sharetribe, Fairphone, Einhorn, Digital Courage, Memex) und wurde später Crowdfunding-Mitglied im Social Entrepreneurship Netzwerk Deutschland (SEND e.V.). Ich sehe Sozialunternehmer*innen als einen möglichen Lösungsbaustein für die Herausforderungen unserer Zeit! Schließlich ist Gemeinwohl in vielen Verfassungen moderner Staaten fest verankert, nicht nur in unserer Sozialen Marktwirtschaft.
Die letzten Jahre waren von weiteren Veränderungen in Bezug auf meine persönliche Weiterentwicklung geprägt: So habe ich ein Jahr bei sipgate, einem der besten „New-Work“-Vorbildern hierzulande gearbeitet, um zu erfahren, wie Verantwortung, Eigentum und Macht auf viele verteilt werden können. Im vergangenen Sommer war ich im buddhistischem Zentrum Plum Village von Thich Nhat Hanh und habe beim Business- & Leadership Retreat folgende Gewissheit erlangt:
„Mitfühlende Unternehmer*innen heilen die Welt.“
Das war der Leitsatz des buddhistischen Meisters. Damit ist nicht gemeint, dass Unternehmende ausschließlich die Welt retten, sondern dass sie durch tiefes Mitgefühl zur Regeneration beitragen können, Leid beenden und Gemeinwohl erzeugen. In einem kleinen Sinn-Workshop konnte ich meine Werte Freiheit und Gerechtigkeit manifestieren und so zu der Erkenntnis gelangen, dass ich mit meinem Handeln Menschen die Möglichkeit zum unvoreingenommenen Perspektivenwechsel ermöglichen möchte, um dann gemeinsam und integrativ die guten Ideen von Morgen zu entwickeln — ja, ein hohes Ziel, wovon ich noch weit entfernt bin. Mit der Übersetzung der Bücher wie “Der Mom-Test” konnten wir bereits hunderte Innovatoren beibringen, ihren Zielgruppen tiefgreifend zuzuhören.
Dass wir mit unternehmerischem Mindset — getrennt von jeglichen Umsatzerwartungen — durchaus die Welt besser machen können, bewiesen wir unter anderem mit dem Europawahl19-Boostcamp, das ich mit der ProjectTogether gUG während meiner Freistellung bei sipgate organisiert habe: Hier haben wir knapp 10 Millionen junge Nichtwähler*innen erreicht und den einen oder anderen sicherlich motiviert, pro-europäisch wählen zu gehen. Ergebnis: Fast 20% höhere Wahlbeteiligung in unserer Zielgruppe! Klar, auch Rezo hatte einen großen Impact. Ich will damit zeigen: Wir können nicht immer auf die Politik warten. Aus eigener Erfahrung und hunderten Gesprächen weiß ich, dass Unternehmer*innen mit ihrer Vision sehr oft nur das Beste wollen, jedoch durch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und die Finanzierungsinstrumente ihr Umfeld und die Umwelt oft ungewollt vernachlässigen. In meiner Arbeit beim Bundesverband Deutsche Startups sowie im SEND e.V. sehe ich das immer wieder. Die dritte Dimension von Social Entrepreneurship (neben Gesellschaft und Unternehmertum) heißt Governance, und diese ist noch sehr unterentwickelt. Mit meinem neuen Seminar und Vortrag „unfuck Startups“ möchte ich die Gründerszene für ein holistisches Handeln motivieren und somit zu einer Veränderung der aktuellen Wirtschaft beitragen. Ein großes Vorbild ist hier die Zebra-Bewegung: Denn im Gegensatz zu exit-getriebenen Einhörnern sind Zebras echte Tiere, achten auf ihre Umgebung, sind nicht zähmbar und verankern ihre positive Mission als oberster Unternehmenszweck. Also:
Unfuck Startups!
Ich habe mich seit Jahren mit mehreren Wirtschafts- und Lebensformen beschäftigt und letztendlich die Gemeinwohl-Ökonomie als Richtung gewählt, da sie wie Greta Thunberg einen Systemwandel einfordert. Durch die Gemeinwohl-Bilanz können sich bestehende Organisationen schon heute transparent auf den Weg zu einer Postwachstums-Gesellschaft machen. So wird Integrität fester Bestandteil unserer Programme bei der Make it. Der GWÖ-Lernweg gibt mir das Fundament und die Werkzeuge an die Hand, um unsere Workshop-Formate sowie agilen Methoden konsequent auf Gemeinwohl auszurichten. Mit dem Online Design Sprint werden wir Projekte, die die 17 Ziele der Vereinten Nationen anpacken, priorisiert fördern. Innovationsvorhaben und Social Startups, die alternative Kennzahlen verfolgen, werden diesen Wandel beschleunigen.
In der Kombination von Achtsamkeit, Startup-Spirit, Agilität und der GWÖ-Matrix sehe ich eine von vielen Maßnahmen, um das Gemeinwohl zu stärken. In meinem berufsbegleitenden Master-Studium Intra- & Entrepreneurship möchte ich in einer Thesis Social Startups & -Innovation und deren Kompatibilität mit der GWÖ beleuchten. Ich unterscheide übrigens strikt zwischen Entrepreneurship und Startup — das Erstere ist „nur“ die Art und (Denk)weise des Umsetzens, unabhängig von einer Wirtschafts- bzw. Organisationsform.
Ich freue mich sehr auf meinen Lernweg zum zertifizierten Gemeinwohl-Ökonomie-Berater und darauf, Teil der internationalen Bewegung rund um Christian Felber zu sein!
… So kommt für mich 2020 unvorhergesehen das zusammen, was ich als Kind gelebt habe und 2008 getrennt habe: Mein Engagement für das Gemeinwohl UND die unternehmerische Leidenschaft!
Im Herbst 2020 habe ich meine Gedanken in einem einstündigen Webinar erstmals grundlegend skizziert: