Mittelalterliche Organisationen menschen-gemäß updaten

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Wir leben in einer Welt voller Herausforderungen und Chancen, die bis dahin noch nie in diesem Ausmaß vorhanden waren. Wie können wir mit Themen wie Klimawandel, Digitalisierung, Populismus usw. besser umgehen? Wie können wir kreieren, innovieren und vielleicht sogar Geld verdienen, ohne dabei Schaden anzurichten? Um diese Fragen zu beantworten, zeigen wir Zusammenhänge auf und erklären Ansätze für eine Veränderung, die wir sofort im kleinen ausprobieren können.

Zitat von Edward O. Wilson, Harvard-Professor für Soziobiologie und Erfolgsautor

In dieser dreiteiligen Blogreihe “How to create the future we need?” gehen wir auf dieses Zitat ein und beleuchten die drei Aspekte, die gemeinsam zur Lösung der gesellschaftlichen Probleme beitragen:

  1. Steinzeitliche Emotionen - eigene Funktionsweise & Emotionen als Mensch bewusst werden
  2. Mittelalterliche Organisationen menschen-gemäß updaten (dieser Beitrag —auch als Video auf YouTube)
  3. Gottähnliche Technologien dem Menschen wieder dienlich machen
Vorausgehend war die dreiteilige Webinarserie von Tanja Kopf, Kamil Barbarski und mir.

Organisationen menschen-gemäß updaten?

Viele Mitarbeitende spüren den Stress mittelalterlich-geprägter Organisationen, über 70% sind unzufrieden mit ihrem Arbeitsplatz. Vor allem bei fragwürdigen Geschäftsmodellen fehlt der Sinn: Künstliche Intelligenz in Zahnbürsten beugt Karies vor, erkennt Krebsgeschwüre zuverlässiger als Ärzt:innen und Psycholog:innen helfen Werbetreibenden, unser Unterbewusstsein anzusteuern. Mit Gesichtserkennung können wir Freunde automatisch taggen, Verbrecher jagen und Terminator-Roboter uns freundlich grüßen lassen … manche Geschäftemacher und Investorinnen sehen in diesen Geschäftsmodellen die Zukunft —wodurch zum Beispiel in der Pflege der moralische Stress massiv zunimmt.

Doch in welchem Dienste arbeitet diese “Digitalisierung”? Welche Herausforderungen kann die (Plattform-)Ökonomie lösen? Und welche nicht? Wie können Innovationsvorhaben und (Social) Startups wieder dazu beitragen, Utopien und wünschenswerte Zukünfte zu nähren? Wie kann man so noch Geld “verdienen” und was kann man getrost weglassen?

Die Antwort steht in unserer Verfassung

Ökonomie, Oiko-nomia kommt von oikos = das Haus + nomia zu nomos = Gesetz und kann übersetzt werden mit der “zweckmäßigen & tugendhaften Haushaltsführung für das gute Leben”. Und so ist es auch in unserer, wie auch in den Verfassungen vieler anderer Nationalstaaten verankert — in Deutschland mindestens drei mal:

„Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl.“
- Artikel 151 der bayerischen Verfassung (1946 per Volksabstimmung)

“Im Mittelpunkt des Wirtschaftslebens steht das Wohl des Menschen.”
- Art. 24, Abs. 1 der Verfassung des Landes NRW

“Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.”
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Art. 14 (2) Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland

Doch wie sehr handelt unsere Wirtschaft danach? In welcher Verfassung befinden sich unsere wirtschaftlichen Tätigkeiten?

Die widernatürliche Erwerbskunst

Die Diagnose steht nicht gut, denn Geld ist in den letzten Jahrzehnten nicht mehr Mittel sondern Selbstzweck geworden. Während die Hausverwaltung, sprich Ökonomik die natürliche Erwerbskunst darstellt, ist die nun vorherrschende Kunst des Gelderwerbes, die Chrematistik, die vorherrschende, jedoch widernatürliche Erwerbskunst. Somit wurde Geld als (Tausch-)Mittel nun zum (Selbst-)zweck. Statt Sinnhaftigkeit, Menschlichkeit und echte Mehrwerte rückten Rendite-Erwartungen, Profitgier und das BIP als oberstes Ziel in den Vordergrund. Dies wird auf praktischer Ebene zum Beispiel anhand werbefinanzierter Geschäftsmodelle deutlich:

Über diese und ähnliche Geschäftsmodellformen sind viele Social Media-Plattformen zu Einhörnern geworden. Ein Einhorn aufzubauen, ist der heimliche Traum vieler kapitalorientierten Gründer:innen, denn dieser Weg verspricht mit einer finanziellen Bewertung von einer Milliarde Euro und ein finanziell sorgenfreies Leben. Und auch die wenigen Investor:innen verdienen kräftig mit. Doch die externalisierten Kosten und Schäden für Natur sowie Mensch sind dramatisch: Egal ob Öl-Konzerne, Wirecard, PinkyGloves, Facebook-Papers, Missstände bei modernen Fahr- & Lieferdiensten — überall sorgt der Chrematismus sichtbar und unsichtbar für die wachsende Schere zwischen Arm und Reich.

Weiterhin ist zu beobachten, dass viele Organisationen die direkte mit der indirekten systemischen Wirkung — oft mutwillig — verwechseln. So ist es für mich als Nutzer nett, wenn mit der Installation der n-tv Nachrichten-App ein Baum kostenfrei gepflanzt wird. Ein Werbe-Anreiz. Ehrlicher und besser wäre es jedoch, wenn der Online-Nachrichtensender, der sowieso mit kaum Papier auskommt, sich mit den Problemen in seiner Branche beschäftigen würde und hier das Geld ausgeben würde: Gegen Desinformation, Fake News, Clickbaits und die Inhaftierung hunderter Journalist:innen weltweit.

Nachhaltige digitale Gesellschaften in großer Gefahr

Überwachungskapitalismus, steigender Rohstoffverbrauch, Veränderungen der Lebensgrundlagen: In einem Hauptgutachten “unsere gemeinsame digitale Zukunft” des WBGU für die Bundesregierung ist vor allem die zweite Dynamik (in rot) tragisch, denn sie beschreibt den Scheideweg zwischen einem neuen Humanismus und einem digital ermächtigten Totalitarismus:

Dieser Abwärtstrend wird befeuert durch die Sammelwut großer Internetkonzerne bei jedem (Werbe-)klick im Internet, zwielichtige Startups (Palentir und der Ex-Kanzler Sebastian Kurz) sowie dem Überwachungskapitalismus. Jedes Jahr fallen demokratische Staaten, sodass der Demokratie-Index nur noch 21 Ländern den Status einer vollen Demokratie verleiht, in dessen nur etwas mehr als 6% der Weltbevölkerung noch “frei” ist. Und nicht selten sind Geschäftemacher und Deeptech-Startups dabei im Spiel, um mit Hilfe von Technologien diese Machtverschiebungen zu beschleunigen. ARTE sieht gar bereits sieben Milliarden im Visier der Überwachung.

Unternehmen haben laut Edelman Trust Barometer 2020 eine hohe Verantwortung, denn sie erhalten vor allem in westlichen Ländern von der Gesellschaft mehr Vertrauen als Regierungen. Gleichzeitig sehen 64% der Deutschen Geschäftsführende in der Rolle, den notwendigen Wandel einzuleiten. 92 % geben an, dass Stakeholder (also Kunden, Mitarbeiter und lokales Umfeld) wichtiger für den langfristigen Unternehmenserfolg sind als die eigenen Shareholder (Investorinnen und Anteilseigner).

Zebras reparieren das, was Einhörner kaputt machen

Als Gegenbewegung entsteht seit Jahren eine neue Art von Organisationen, die Wirkung und Profit in Einklang bringen will — ohne das eine für das andere zu opfern. So genannte Zebra-Startups verbinden diese beiden Welten und verlassen somit den veralteten Drang der Einhorn-Denke des höher, schneller und weiter:

Beispiele für Zebras sind Patagonia, WEtell, Ecosia, Einhorn, Waschbär, Bosch, Zeiss, Tomorrow Bank, Premium Cola, Wildlinge und viele mehr. Keines der genannten Beispiele sind gemeinnützig, dass wird oft nicht verstanden. Zugleich haben viele dieser Startups Mechanismen installiert, damit sie kein Opfer von Finanzspekulationen werden. Gemeinsam engagieren sie sich für eine neue Rechtsform, die dies wasserdicht machen soll. Die weltweit beliebte GmbH-Rechtsform aus dem 18. Jahrhundert braucht dringend ein Upgrade, denn sie ermöglichte mit ihrem Mutter/Tochter-Prizip auch die räuberischen, kolonialen Machtstrukturen.

Tipp: Die Beratung reframe.ventures hat 24 Grundtypen wirkungsorientierter Geschäftsmodelle identifiziert, die allesamt zu einem besseren Wirtschaften beitragen.

Systemische Probleme brauchen systemische Antworten

Doch im aktuellen Wirtschaftssystem kommen diese großartigen Ideen schnell an ihre Grenzen. Es gibt viele Wirtschaftsordnungen, die dafür Sorge tragen könnten, dass sich unsere Organisationen wieder ihrer Mission bzw. Purpose widmen könnten. Vor allem ethisch-vorbildliche Unternehmen sind mit zahlreichen Nachteilen gegenüber Firmen, die zum günstigsten Preis und auf Kosten von Mensch und Natur produzieren, konfrontiert. Es folgen vier Beispiele neuer Wirtschaftsordnungen, für die sich jede Organisation aktiv einsetzen kann:

  • Die Postwachstums-Ökonomie und Postwachstums-Entrepreneurship versucht im Kern, den Wachstumszwang umzukehren. Das ist auch dringend nötig, da wir von den durchschnittlich 11 Tonnen CO2-Verbrauch pro Person und Jahr auf 1,5 klimagerechten Tonnen runter-kommen müssen. Ein Weg dorthin ist der New Work-Ansatz, welcher die Erwerbsarbeitszeit des Menschen auf etwa 15 Stunden die Woche reduziert. Weitere 15 Stunden können so für die persönliche Entwicklung und nochmals die gleiche Anzahl an Stunden für die Gemeinschaft (z.B. Care-Arbeit, Reparaturen etc.) aufgewendet werden. Neben nachhaltigem Wirtschaften entsteht so ein großer Raum für restauratives und regeneratives handeln, um unseren Planeten zu heilen.
  • Die Doughnut Economy verspricht ein Wirtschaften im Rahmen planetarer Grenzen ohne Menschen zurück-zulassen. Dies ist durch einen Doughnut visualisiert: Kein Mensch soll in das Loch in der Mitte fallen und die Wirtschaft soll nicht über den Rand hinaus wachsen. Die Stadt Amsterdam ist Vorbild für eine Wirtschaft, die eben nur “gut genug” sein will.
  • Das gemeinschaftsbasierte Wirtschaften versucht die Grundidee der solidarischen Landwirtschaft auf alle anderen Wirtschafszweige zu übertragen. Dabei ist nicht mehr der Markt für die Preisregelung und Güterverteilung zuständig, sondern der echte Bedarf einer Gemeinschaft. Gemeinsam finanzieren sie die Produzenten oder Dienstleister vorab und tragen somit auch die unternehmerischen Risiken mit. In der sogenannten Bieterrunde kommt der dafür notwendige Betrag zusammen. Dies geschieht solidarisch, da jedes Mitglied auf Basis des Werteempfindens und der finanziellen Möglichkeiten einen anderen finanziellen Beitrag leistet. Somit entsteht auch eine echte Umverteilung.
  • Die Gemeinwohl-Ökonomie bietet als Ergänzung zur Finanzbilanz die sogenannte Gemeinwohl-Bilanz. Sie orientiert sich anhand von Universalwerten, die jeder Mensch für erstrebenswert hält. Umso höher Organisationen hier punkten, desto mehr Vorteile in Form von Steuernachlässen sind möglich. Dadurch werden zum Beispiel Bio-Produkte sogar günstiger als konventionelle Lebensmittel. Ziel ist es, dass das Gemeinwohl-Produkt das Bruttoinlandsprodukt als Hauptindikator für gesunde Staaten ablöst.

Eine Übersicht weiterer Wirtschaftsformen und unzähligen wissenschaftlichen Argumenten finden sich auf plurale-oekonomik.de oder econ4future.de.

Wie kann nun jede:r von uns diese neuen Organisationsformen fördern?

Es gibt viele Handlungsfelder, um den ökologisch-sozialen Wandel der Geschäftspraktiken voranzutreiben:

Hier nur ein paar Ideen zum Schluss:

Konsum

  • Green- & Social Washing erkennen
  • Alternativen wie Social Startups eine Chance geben / vorziehen
  • CO2-Fußabdruck ermitteln & seinen Konsum hinterfragen
  • Glück im inneren statt im äußeren finden

Arbeit

  • Gestaltungspotenzial erkennen
  • Die richtigen Fragen stellen
  • “Rechtmäßigen Erwerb” erkennen
  • Seinen Arbeitgeber überdenken

Unternehmen

  • Geschäftsmodelle und Kennzahlen gemeinwohl-orientiert entwickeln
  • Partnerschaften mit Stakeholdern & Aktivisti
  • Gemeinwohl- oder Postwachstums-Pionier werden
  • Soziokratie, New Work und co. massiv ausbauen

Politik

  • Jede:r: Teil der Lösung und nicht des Problems sein
  • Die 17 Ziele für Nachhaltigkeit mitgestalten
  • Verfassungsgemäße Gemeinwohl-Orientierung einfordern
  • Andere Nationen inspirieren

Finanzen

  • Alternative Anlage-Modelle finden
  • Neue Banken ausprobieren
  • Sein Bezug zu Geld hinterfragen
  • Wert in Sinn, Menschlichkeit & echten Nutzen erkennen

Zum weiterlesen:

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Daniel Bartel — Innovating for Future!

Innovating for Common Good @MAK3it @GWÖ I Activist for Climate Justice I ♥ #LeanImpact #SocEnt Let’s #unlearnStartups! Books: #StartupHandbuch #DerMomTest